Naturalistische Pädagogik

Naturalistische Pädagogik

Beitragvon Sisyphos » Mi 28. Mär 2007, 14:12

Joe hat vorgeschlagen, diesen Beitrag ins Kompendium aufzunehmen.

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Naturalistische Pädagogik – ein Essay

Eine Naturalistische Pädagogik beschränkt sich nicht auf die Forderung nach Abschaffung des Religionsunterrichts.

Der Mensch in seiner Natur als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt aller Überlegungen über naturalistische Pädagogik ist ein naturalistisches Welt- und Menschenbild, das frei ist von mystischen und übernatürlichen Elementen. Naturalistische Pädagogik ist sinnlich, nicht übersinnlich: Der Mensch entwickelt sich in sinnlicher Wahrnehmung und Interaktion mit seiner materiellen und sozialen Umwelt. Religiöse Mythen und imaginäre Autoritäten tragen weder zur Erklärung der Welt bei, noch führen sie zur Stärkung des Menschen.

Naturalistische Pädagogik ist zugleich auch humanistische Pädagogik. Sie stellt nicht die Anforderungen aus Wirtschaft und Gesellschaft (Bildungsstandards, Kompetenzkataloge) an den Anfang der Überlegungen, sondern den Menschen in seiner Gegenwärtigkeit, mit seinen Bedürfnissen und seinen Potenzialen. Und sie richtet sich konsequent gegen alle Versuche, jungen Menschen unter Verweis auf „gesellschaftlichen Werteverfall“ überkommene, da aus früheren gesellschaftlichen Kontexten stammende, Moralvorstellungen einzutrichtern.

Das selbstbestimmte Individuum als Bildungsziel

Ziel einer naturalistischen Bildung ist das selbstbestimmte Individuum, das kritisch und frei von tradierten Wertvorstellungen die Welt erkennen und erklären kann. Der Naturalismus legt nahe, dass der Mensch als aufgeklärter Hedonist (griechisch hedone = Freude, Lust) „das höchste Gut auf Erden im Glück, das größte Übel im Unglück“ sieht (Epikur). Der Hedonismus schließt die Freude an der Gerechtigkeit mit ein: „Genießen und genießen lassen“ (Michel Onfray).

Kindheit und Jugend sind eine eigenständige Lebensphase mit dem Recht auf Selbstbestimmung, Glück und Zufriedenheit. Der Spruch "Du lernst für deine Zukunft!" ist für Kinder nicht einsichtig, ist für sie zu abstrakt, um ihn in Motivation umzuwandeln. Kinder lernen und leben im Hier und Jetzt. Zu lange wurden Menschen mit dem Verweis auf Glück in einer ungewissen fernen Zukunft in der Gegenwart am Menschsein gehindert.

Eine Schule, die zu einem modernen Welt- und Menschenbild führt, orientiert sich am ersten Angebot des Evolutionären Humanismus: „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!“ (Michael Schmidt-Salomon) Schüler erwerben die Fähigkeit kritischen Denkens und Zweifelns. Sie entwickeln den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

Berücksichtigung von Erkenntnissen über die Natur des Menschen

Pädagogik ist die Interaktion von Menschen, die in der Schule zeitlich, räumlich, methodisch und inhaltlich organisiert wird. Naturalisten fordern, dass sich diese Organisation konsequent an der Natur des Menschen orientiert.

Lernprozesse müssen viel stärker als bisher unter Beachtung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung gestaltet werden. Wie entwickelt sich das Gehirn? Wann und unter welchen Umständen finden dort Lernprozesse statt? Auch die Kognitionspsychologie erklärt uns – und zwar schon länger –, wie Wahrnehmung, Verarbeitung, Speicherung, Wiedergabe und Anwendung von Wissen funktionieren. Wir wissen mittlerweile auch gut, wie Emotionen sich auf die Motivation auswirken können. Vieles hören Lehramtsstudenten seit Jahren in Vorlesungen. Die Umsetzung solcher Erkenntnisse erfolgt in der schulischen Praxis aber nur unzureichend, weil andere Prämissen bei der Planung und Durchführung von Unterricht eine stärkere Rolle spielen. Wir verlangen, dass die zeitlichen Zwänge und Belastungen, die Lehrern hierbei im Wege stehen, beseitigt werden.

Und: Lehren und Lernen müssen so organisiert sein, dass die gegenwärtigen (konkreten) und nicht nur die zukünftigen (abstrakten) Bedürfnisse der Beteiligten befriedigt werden. Deshalb darf sich Schule nicht allein auf das Abschlusszeugnis ausrichten, sondern muss beachten, dass der Weg dahin keine Qualen hervorruft. Zum Beispiel: Weder dem Wohlbefinden des Schülers noch dem Lerngegenstand ist gedient, wenn der Stundenplan nicht dem Biorhythmus entspricht und sich ein Teil der Schüler morgens noch in der subjektiven Nacht befindet. Weder der Gesundheit des Lehrers noch seinen beruflichen Zielen ist gedient, wenn er unter Stress und Überforderung dem Burnout entgegensteuert. Erfahrungen zeigen, dass mit dem Ziel der Minimierung von Leid dann oft die Qualität des Unterrichts zurückgefahren wird, weil die Quantität festgelegt ist. Schüler wie Lehrer sind Menschen; sie stoßen als solche an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.

Das Prinzip von Menschlichkeit und Anerkennung

Wir wissen, dass der Mensch in seinem Denken und Handeln – bewusst oder unbewusst – dem Prinzip Eigennutz folgt. Wir unterliegen keinen naiven Illusionen über die Wirksamkeit sogenannter Tugenden. Bei gefühlter Müdigkeit oder Überforderung abzuschalten ist nicht unmoralisch, sondern ganz natürliches menschliches Verhalten. Naturalisten sehen den Menschen deshalb aber nicht als stets nur auf sich bedachten Egoisten. Menschen sind soziale Wesen. Nur in der Zusammenarbeit, nicht im Alleingang sind wir überlebensfähig: Kooperation dient dem Einzelnen. Den ganz natürlichen Eigennutz in soziale Bahnen zu lenken nennen wir soziales Lernen.

Im Dienste des Eigennutzes (Überleben, Vorankommen, Sich-Wohlfühlen, Glücklichsein) steht in menschlichen Gruppen das "Prinzip Menschlichkeit" (Joachim Bauer), verstanden als ein Geben und Nehmen, als ein Vertrag darüber, den Anderen nicht zu schädigen und selbst keinen Schaden zu erleiden, dem Anderen zu helfen und selbst Hilfe zu genießen. Funktioniert Menschlichkeit nicht – was an Schulen in vielen Einzelfällen der Fall ist – und findet also ein der menschlichen Kooperation entgegengesetztes Verhalten (Einzelgängertum, Vereinzelung) statt, kann das negative Auswirkungen auf das Individuum haben: ungünstige Beeinflussung der körpereigenen "Motivationssysteme" (Hormone), Depression, auch Aggression. Wir wissen darum – und könnten es vermeiden.

In diesem Zusammenhang denken wir auch an die Anerkennungstheorie des Soziologen Wilhelm Heitmeyer, die menschliches Verhalten als auf den Erwerb von Anerkennung durch den sozialen Nahraum ausgerichtet beschreibt. Anerkennung zu bekommen, ist auch zutiefst eigennützig! Gibt es diese Anerkennung nicht, wird das Verhalten unter Umständen problematisch. So erklärt Heitmeyer die alternative Suche nach Anerkennung etwa in rechtsextremen Gruppen – und damit zusammenhängend fremdenfeindliche und gewaltbereite Einstellungen. Man könnte diese Theorie auch auf Religiosität anwenden: Mangelt es an Anerkennung durch Menschen oder an Kooperation mit anderen, könnten Menschen mit der Zeit auf die Idee kommen, sich alternativ Anerkennung durch einen imaginären Gesellen (Gott) zu holen.

Mit dem Ziel motivierten und erfolgreichen Lernens sowie eines befriedigenden Schullebens sollte also das Prinzip Kooperation bzw. Menschlichkeit stärker beachtet werden. Junge Menschen brauchen Rückmeldung und die Anerkennung ihrer Person - und zwar durch ihre Mitmenschen im sozialen Nahraum. Die Strategie mancher Lehrer, etwa rechts orientierte Schüler als Person nicht anzuerkennen, geht dann natürlich nach hinten los.

Das Prinzip der Wissenschaftspropädeutik

Die naturalistische Pädagogik sieht die wesentliche didaktische Herangehensweise an den Lerngegenstand in der Wissenschaftspropädeutik. Diese gilt bereits als Spezifikum der gymnasialen Oberstufe. Dabei soll die Befähigung der Schüler zu einem wissenschaftlichen Studium gefördert werden. Eine naturalistische Pädagogik, die sich explizit auf ein wissenschaftlich begründetes Welt- und Menschenbild stützt, sollte Wissenschaftlichkeit als oberstes Prinzip des Lernens insgesamt nahelegen. Der Unterricht enthält also mehr wissenschaftspropädeutische Angebote – natürlich der Altersgruppe entsprechend. So können Schüler exemplarisch in wissenschaftliches Denken und Arbeiten eingeführt werden.

Die wissenschaftliche Herangehensweise darf vor dem Lerngegenstand Religion nicht halt machen. Selbst im Ethikunterricht werden die großen Weltreligionen oft nur in ihrer äußeren Erscheinung betrachtet, aber weder textkritisch, noch religionssoziologisch oder gar – in Ansätzen – religionspsychologisch zu erklären versucht. Kognitive Dissonanzen der Schüler, die entstehen, wenn ganz eindeutig Falsches als „heilig“ (unantastbar) hingestellt wird, dürfen nicht übergangen werden. Es fügt dem Glauben der Gläuben keinen Schaden zu, wenn Ungläubige den Glauben wissenschaftlich erklären können. Wissenschaftlichkeit im Unterricht heißt auch, jeglichen Forderungen religiöser Fundamentalisten (auch in Deutschland!), den Kreationismus im Unterricht als gleichwertig zu behandeln, eine Absage zu erteilen. Intelligent Design und Kreationismus müssen mit wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen (Geologie, Biologie) widerlegt und als Unsinn entlarvt werden! Denn um mehr handelt es sich nicht.

Der Mensch ist Teil der Natur und steht nicht über ihr. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung und die Welt ist uns nicht Untertan. Wir sind eingebunden in ökologische Bezüge und Abhängigkeiten, die sich mit wissenschaftlichen Methoden sichtbar machen und nachvollziehen lassen. Die Erkenntnis, dass die Spezies Mensch ein vorübergehendes Phänomen ist und irgendwann aussterben wird, wie viele Tierarten vor ihm, mag eine Kränkung sein. Doch vielleicht ist diese naturalistische Betrachtung der Kern einer modernen Umweltpädagogik. Sie kann dazu motivieren, unsere natürlichen Lebensgrundlagen nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen – zu unserem eigenen Nutzen!

Das Prinzip der Kontroversität

In der politischen Bildung gilt seit vielen Jahren der sogenannte Beutelsbacher Konsens. Er enthält zum einen das Verbot der weltanschaulichen Indoktrination (Überwältigungsverbot) und zum anderen den Kontroversitätsgrundsatz: Alles, was in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft kontrovers ist, muss im Unterricht auch kontrovers bleiben. In Sozialkunde/Politische Bildung hat man sich längst daran gewöhnt.

Im Fach Ethik (besonders beim Thema Religion) ist eine solche Herangehensweise oft noch ein furchtbarer Frevel. Lehrern droht wegen des Tatbestandes „verletzter religiöser Gefühle“ sofort eine schulinterne Hexenjagd. Die notwendige Kritik am Untersuchungsgegenstand tritt zurück, um die jeweilige Religion stets als für die Schüler annehmbar erscheinen zu lassen. Falschverstandene Toleranz und Harmonie stehen der kontroversen Herangehensweise im Wege. Religionen werden gestreichelt, obwohl sie in vielen Punkten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder sogar modernen ethischen Standards widersprechen.

Man stelle sich vor, in Sozialkunde würden in jeder Klassenstufe zehn Wochenstunden für die unkritische Behandlung einer politischen Partei zur Verfügung stehen. Klasse 8: CDU, Klasse 9: SPD etc. etc.. Absurd! Ein wesentliches Prinzip naturalistischer Pädagogik ist die konsequente Anwendung des Kontroversitätsgrundsatzes in allen Schulfächern, die kontroverse Gegenstände zum Inhalt haben.

Das führt auch zur Abschaffung bekenntnisgebundenen Unterrichts. Im Namen kultureller und religiöser Vielfalt wird lediglich „potenzierte Einfalt“ (Michael Schmidt-Salomon), aber weder die Integration der Gesellschaft noch das selbstbestimmte Individuum gefördert.
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Beitragvon Joe » Fr 30. Mär 2007, 18:12

@ Sisyphos
Der Beitrag befindet sich momentan noch auf dem zweiten Level des Kompendiums, da wir noch technische Probleme haben. Aber Klaus arbeitet daran. :wink:
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Beitragvon Klaus » Fr 30. Mär 2007, 19:43

Jo, ich mach ne völlig neue Struktur. :ops:
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Beitragvon Sisyphos » Fr 30. Mär 2007, 20:59

Es eilt ja nicht.
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Beitragvon Klaus » Fr 20. Apr 2007, 12:01

Der Beitrag ist im brightsblog gepostet. Diskussionen und Kommentierungen auch dort erwünscht.
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Beitragvon Sisyphos » Fr 20. Apr 2007, 18:16

Klaus hat geschrieben:Der Beitrag ist im brightsblog gepostet. Diskussionen und Kommentierungen auch dort erwünscht.


Prima! Danke. :up:
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Beitragvon Klaus » Fr 20. Apr 2007, 18:43

Gern geschehen. :/
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Beitragvon Klaus » Sa 21. Apr 2007, 12:16

Mein Vorschlag zur Sache, also was ich mir wünschen würde, wenn die Mitglieder des Forums stärker als bisher auf dem Blog kommentieren würden. Sisyphos hat diesen Essay über Naturlistische Pädagogik geschrieben, er ist veröffentlicht, also bitte ich darum, was eine Internet-Community, wie sie die Brigths darstellen machen sollte, Präsenz zeigen im Internet, wir sind da und wir nehmen das ernst, auch unsere eigenen Medien.
Wenn jemand einen Kommentar postet, dann bitte unter seinem Alias, welchen er hier im Forum benutzt. bei Klarnamen bitte nur den Vornamen benutzen. Danke. :/
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