ganimed hat geschrieben:Dem ersten Absatz kann ich fast zustimmen. Völlig unlogisch, wie man aber von der Feststellung - das Selbst gibt es nicht und alle Einflussfaktoren sind überall verteilt, sogar außerhalb eines Menschen - zu der Schlußfolgerung kommt, dass wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich seien. Dieses "selbst" gibt es doch gerade eben nicht.
AgentProvocateur hat geschrieben:Die Substantivierung "das Selbst" oder besser "mein Selbst" kenne ich in der Alltagssprache nur mit einer ironischen Konnotation. In letzter Zeit ist es mir öfter über den Weg gelaufen, und zwar immer mit so: "mein früheres Selbst" ("hat das und das gemacht, geglaubt" etc.). Es ist dann so eine Art Selbst-Distanzierung, aber eben ein bisschen ironisch gemeint. Nun habe ich in im letzten Satz das Wort "selbst" selber verwendet. Und in dem wiederum letzten Satz das Wort "selber".
AgentProvocateur hat geschrieben:Man unterscheidet normalerweise sehr wohl zwischen der Substantivierung "das Selbst" und den Wörtchen "selbst/selber".
Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn falsch am phänomenologischen Ich?
Myron hat geschrieben:Es gibt Philosophen, die die Frage nach dem Selbst sehr ernst nehmen:
[...]
– Galen Strawson, "The Self": http://www.imprint.co.uk/strawson.htm (vollständiger Text)
ganimed hat geschrieben:Je nachdem wie sehr man den Aspekt der äußeren Faktoren betont, würde man wohl folgern, dass der Mensch nicht vollständig verantwortlich für sein Selbst ist, zumindest nicht für alle Aspekte des Selbst. Insofern könnte man auch Zweifel daran bekommen, ob das Individuum wirklich und vollständig für seine Handlungen verantwortlich ist.
ganimed hat geschrieben:Aber wenn es stimmt was die Hirnforscher sagen, dass dieses Ich eine konstruierte Illusion des Gehirns ist, dann hat das schon Folgen.
ganimed hat geschrieben:Das Ich fühlt sich ja so an (bzw. die Illusion besteht darin), dass man eine feste Identität hat, sich nicht ändert im Kern und charakteristische Eigenschaften besitzt (Interessen, Erfahrungen, Ansichten, Charakter, Werte, ...). Aber all das ist eben mehr oder weniger falsch.
ganimed hat geschrieben:Unsere Identität ist nicht fest, sie ändert sich über die Lebenszeit, nach einschneidenen Erlebnissen, unmerklich über lange Zeiträume, biologisch geplant durch Reifungs- oder Umbauprozesse (Altersphasen) oder durch Krankheiten bzw. Hirnoperationen. Und unsere Interessen, Erfahrungen, Ansichten, Charakter und Werte sind nicht in Stein gemeißelt.
ganimed hat geschrieben:Nun ist aber ein definiertes, relativ festes und wiedererkennbares Ich die Grundlage für Begriffe wie Verantwortung, Entscheidungsfreiheit etc.
ganimed hat geschrieben:Und diese Grundlage ist zumindest in Frage gestellt. Ich sehe da also schon gewaltigen Reformierungsbedarf, was das Selbstverständnis des Menschen angeht.
AgentProvocateur hat geschrieben:Ist eine Antwort auf Galen Strawson, die mit meiner Ansicht viel besser übereinstimmt als die von Galen Strawson.
Myron hat geschrieben:– "The Oxford Handbook of the Self": http://ukcatalogue.oup.com/product/9780199548019.do
– Galen Strawson, "Selves": http://ukcatalogue.oup.com/product/9780198250067.do
– Galen Strawson, "The Self": http://www.imprint.co.uk/strawson.htm (vollständiger Text)
Myron hat geschrieben:Ich betrachte den Begriff des Selbstes nicht als einen Unbegriff. Die Frage nach dem Selbst ist die Frage nach dem Ich, dem Subjekt.
Ich: http://www.textlog.de/3995.html
"Ich ist der Ausdruck der Selbstunterscheidung eines lebenden Subjekts von anderen Subjekten und den Objekten (Nicht-Ichs), also der Beziehung von Erlebnissen auf das Subjekt als deren Eigner, Träger, konstanten Faktor. Das Ich ist das Identische, Permanierende, die Einheit eines lebenden, bewußten Wesens.…"
Ich: http://www.textlog.de/1679.html
"…Durch den Leib treten wir in Erscheinung, orientieren wir uns im Räume, treten wir mit der Welt in Wechselwirkung und vergewissern wir uns, ob wir wachen oder träumen. Er ist der Sitz unserer Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen. Das individuelle Ich ist also in erster Linie das leibliche Ich. - Allmählich aber lernt der Mensch, daß sein Ich nicht mit dem Leibe identisch sei. Denn dieser kann sehr wohl verletzt oder verstümmelt werden, ohne daß jenes sich dadurch ändert, und jenes kann an Tiefe, Umfang und Klarheit zunehmen, während der Leib verfällt.…" [...] (Strawson, Galen. Selves: An Essay in Revisionary Metaphysics. Oxford: Oxford University Press, 2009. p. 8)
Das ist ein entscheidender Punkt in der Diskussion! Man beachte dabei, dass sich Strawson als Materialist bezeichnet und unter vom Leib/Körper/Organismus als Ganzem verschiedenen Ichs/Selbsten/Subjekten keineswegs unkörperlich-unstoffliche Seelen oder Geister in Sinne des Substanzdualismus versteht.
He [Galen Strawson] discusses the claim that
....the mental self is ordinarily conceived or experienced as:
(1) a thing, in some robust sense
(2) a mental thing, in some sense
(3,4) a single thing that is single both synchronically considered and diachronically
considered
(5) ontically distinct from all other things
(6) a subject of experience, a conscious feeler and thinker
(7) an agent
(8) a thing that has a certain character or personality
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich bin nun der Letzte, der hinter jedem Sandkorn einen verkappten Substanz-Dualisten vermuten und wittern würde und ich habe auch keinerlei grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber Philosophie. Außerdem halte ich es für völlig falsch, ein Subjekt als Illusion seiner selbst anzusehen, ich halte das vielmehr für einen performativen Selbst-Widerspruch und daher für nicht weiter bedenkbar, weil in sich völlig unsinnig.
Dennoch aber halte ich es mehr mit dem von mir verlinkten Text als mit Strawsons Ausführungen:He [Galen Strawson] discusses the claim that
....the mental self is ordinarily conceived or experienced as:
(1) a thing, in some robust sense
(2) a mental thing, in some sense
(3,4) a single thing that is single both synchronically considered and diachronically
considered
(5) ontically distinct from all other things
(6) a subject of experience, a conscious feeler and thinker
(7) an agent
(8) a thing that has a certain character or personality
Ich habe wie Sloman gleichermaßen Probleme mit den Punkten (2) und (5). Wenn wir die wegließen, dann hätte ich kein Problem mehr damit, dann könnte ich dem bedenkenlos zustimmen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Und damit: "Für Strawson ist ein Minimalsubjekt also ein psychophysischer Prozess ("Prozess-Objekt") in einem Organismus, der von darin stattfindenden physiophysischen, neurophysiologischen Prozessen erzeugt und aufrechterhalten wird." habe ich auch kein Problem.
Allerdings meine ich, dass das Alltagskonzept davon, wie man sich selber sieht, sehr viel vielschichtiger ist, als das, was Galen Strawson meint, herauskristallisiert zu haben. Dazu fand ich übrigens dieses Papier sehr erhellend.
Extrem kurze Zusammenfassung: es gibt gemeinhin drei unterschiedliche Konzepte vom Selbst:
1. Das Köperkonzept ("ich bin mein Körper")
2. Das psychologische Konzept ("ich bin meine Erinnerungen, Weltanschauung, Überlegungen etc.")
3. Das externe Konzept ("ich bin nicht Gedanken, ich bin nicht Handlung, ich bin nicht Gefühle, ich bin etwas, das denkt, handelt und fühlt")
Diese drei Konzepte schließen sich nun aber nicht aus, sondern werden, je nach Kontext, (die Autoren nennen es 'zoom-in' und 'zoom-out'), von ein- und derselben Person angewendet, sind also kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch.
Das deckt sich übrigens ziemlich gut mit dem, wie ich mich (auch schon vorher) sehe und gesehen habe. Als ich das gelesen habe, dachte ich bei mir: "ja, so ist es, das trifft es".
AgentProvocateur hat geschrieben:Dazu fand ich übrigens dieses Papier sehr erhellend.
Extrem kurze Zusammenfassung: es gibt gemeinhin drei unterschiedliche Konzepte vom Selbst:
1. Das Köperkonzept ("ich bin mein Körper")
2. Das psychologische Konzept ("ich bin meine Erinnerungen, Weltanschauung, Überlegungen etc.")
3. Das externe Konzept ("ich bin nicht Gedanken, ich bin nicht Handlung, ich bin nicht Gefühle, ich bin etwas, das denkt, handelt und fühlt")
AgentProvocateur hat geschrieben:Extrem kurze Zusammenfassung: es gibt gemeinhin drei unterschiedliche Konzepte vom Selbst:
1. Das Köperkonzept ("ich bin mein Körper")
2. Das psychologische Konzept ("ich bin meine Erinnerungen, Weltanschauung, Überlegungen etc.")
3. Das externe Konzept ("ich bin nicht Gedanken, ich bin nicht Handlung, ich bin nicht Gefühle, ich bin etwas, das denkt, handelt und fühlt")
Diese drei Konzepte schließen sich nun aber nicht aus, sondern werden, je nach Kontext, (die Autoren nennen es 'zoom-in' und 'zoom-out'), von ein- und derselben Person angewendet, sind also kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch.
Das deckt sich übrigens ziemlich gut mit dem, wie ich mich (auch schon vorher) sehe und gesehen habe. Als ich das gelesen habe, dachte ich bei mir: "ja, so ist es, das trifft es".
Myron hat geschrieben:AgentProvocateur hat geschrieben:[...]
Hier überlappen die Frage nach dem Ich/Selbst/Subjekt und die Frage nach der persönlichen Identität.
1 entspricht der materialistischen/korporalistischen/animalistischen Theorie des Ichs/Selbstes/Subjektes: [...]
2 entspricht der Hume'schen Bündeltheorie: [...]
3 entspricht demjenigen, das man als Substratum- oder Substanz-Theorie des Ichs/Selbstes/Subjektes bezeichnen kann:[...]
ujmp hat geschrieben:Das ist pure Spekulation, so einfach kann man solche Schlüsse nicht ziehen. Man kann nämlich z.B. umgedreht aus einem Affen durch Sozialisation keinen Menschen machen. Das menschliche Gehirn hat nicht nur eine andere Größe sonden offenbar auch eine andere Struktur, denn Menschen die an Mikrozephalie leiden haben zwar u.U. ein Gehirn, dass nicht größer ist als das eines Menschenaffen, sie sind aber trotzdem fähig Sprache u.v.m. zu lernen, was man Affen nicht beibringen kann.....
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