Mark hat geschrieben:http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,556283,00.html
Was denkt Ihr ?
Ich habe bis jetzt das Buch noch nicht gelesen, beziehe mich als nur auf den Artikel. Was den betrifft, denke ich, dass Sandra Mitchel grundsätzlich recht hat. Ich glaube, dass ich das relativ durchgängig argumentieren kann:
1. Voraussetzung: Ich gehen davon aus, dass wir, wenn wir überhaupt etwas sinnvoll beschreiben, ausnahmslos natürliche Systeme beschreiben. Auch wenn wir Menschen beschreiben, beschreiben wir natürliche Systeme, weil Menschen ganz Teil der Natur sind.
---
2. Aus (1) folgt: Wenn wir kognitive Prozesse beschreiben, dann beschreiben wir Prozesse in natürlichen Systemen. Konkreter sind es Beschreibungen, die so aufgebaut sind, dass darin Subsysteme ausgezeichnet werden, die mit ihrer Umgebung interagieren. Interaktion ist dabei nichts anderes als die Spur der Dynamik des Gesamtsystems in den Projektionen in die Zustandsräume der Subsysteme. So etwas kann man zum Beispiel am Computer spielen, indem man ein Szenario programmiert, in dem Agenten mit ihrer Umgebung interagieren und lernen, anhand von Ereignissen in der Interaktion mit der Umgebung erfolgreiche Spielzüge zu machen. Natürlich lässt sich diese Beschreibung auch in die eines deterministischen Programms übersetzen - die ganzen Aspekte von Kognition kamen nur dadurch zustande, dass wir in unserer Beschreibung des Programmablaufs 'Objekte' als Einheiten der Beschreibung eingeführt haben, die mit ihrer Umgebung verschränkt sind.
2.a) Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Organismen irgendwie etwas anderes wären als Subsysteme, die wir in userer Beschreibung komplexer Systeme einführen, weil das eine praktische Möglichkeit ist, Aussagen über Observable zu gruppieren (so, wie 'Objekte' in die Beschreibung des Zustandsraums eines Computers eingeführt werden. Nicht praktisch, aber logisch könnte die gesamte Ontologie durch Verweise auf Observable des Systems elimniert werden, in dem die Organismen auftreten, also durch Aussagen über chemische und physikalische Prozesse, in denen nur Atome und Moleküle als Beteiligte auftreten.
2.b) Epistemische Begriffe (Wahrheit/Repräsentation/..) müssen aus jeder Theorie kognitiver Prozesse logisch eliminierbar sein. Soweit Theorien kognitiver Prozesse sinnvollen Inhalt haben, sind sie ja Theorien von Vorgängen in natürlichen Systemen. Der Rest betrifft das Handwerkszeug, um solche Theorien formulieren zu können - also rein abstrakte, mathematische Formalismen.
2.c) Erkenntnistheorie ist, wenn sie keine dualistischen Annahmen einführen will, Naturwissenschaft plus rein abstrakte Theorie. Radikal zu Ende gedacht: Naturwissenschaft plus Algebra. Nur, dass wir es eben nicht schaffen, das radikal zu Ende zu denken. Deswegen bleibt dort Philosophie und Alltagserfahrung wichtig. Das ist aber kein Grund, von einem naiven Konzept der Wahrheit von Theorien auszugehen.
3.) Wenn Kognitive Prozesse in natürlichen Systemen ablaufen, dann sind sie letztlich Prozesse, bei denen es um die Stabilität der Interaktionsmuster von Subsystemen mit ihrer Umwelt geht. Wenn man will, kann man das als Anpassung an Chancen beschreiben, die sich für Agenten in ihrer Interaktion mit der Umgebung aus den Regularitäten ergeben. Letztlich ist aber diese adaptationistische Interpretation ebenso eliminierbar, wie in der Theorie der biologischen Evolution. Es geht einfach um die Dynamik komplexer Systeme, die man als Resultat der Überlagerung von Vorgängen beschreiben kann, bei denen Variation entsteht und selektiert wird.
3.a) Für kognitive Strategien gilt etwas analoges wie für Organismen: welche Form in einer Umgebung überlebt, hängt von den Eigenschaften der Umgebung ab. Damit löst die evolutionstheoretische Betrachtung sehr elegant die Probleme auf, die sich aus der Unmöglichkeit der Begründung induktiver Schlüsse oder Paradoxien wie dem grot-paradoxon oder dem Russelschen Huhn ergeben. Wir brauchen nicht zu begründen, dass wir irgendwas erkennen können; wir beschreiben einfach die Beschaffenheit von Systemen, in denen Populationen von Agenten existieren und sich verändern, wobei sich auch die Form ihrer Interaktion mit der Umgebung ändert.
4.) Wenn wir uns dafür interessieren, welche Regularitäten von Trajektorien in Interaktionen von Agenten und Umwelt 'ausnutzbar' sein können, dann sind das sehr oft nicht solche, bei denen die Prognosewahrscheinlichkeit mit der Komplexität der betrachteten Prozesse oder der Dauer der Prognose monoton abnimmt. Dafür gibt es ganz handfeste Besipiele: in der natürlichen Umgebung von Katzen ist es normal, dass sich aus dem Verschwinden einer Maus in einem Mauseloch sehr viel besser vorhersagen lässt, dass diese Maus wahrscheinlich wieder auftauchen wird, als dass sie es in kurzer Zeit wieder tun wird. Es ist daher nicht sonderlich erstaunlich, dass Katzen vor Mauselöchern warten - Antizipation ist etwas völlig normales.
4.a) Der Term 'ausnutzbar' steht dafür, dass die Ergebnisse der Reaktion des Agenten auf Ereignisse in der Interaktion mit der Umgebung relevant für die Stabilität ist. Er wird so verwendet wie der Asudruck 'Chancen, die eine ökologische Nische bietet' in der Theorie der biologischen Evolution; also als praktische Kurzform für Aussagen über Stabilitätsbedingungen.
5.) Der naturwissenschaftliche Reduktionismus ist eine Strategie zur Ausbeutung der Chancen, die sich aus einer speziellen Klasse von Regelmäßigkeiten in natürlichen Systemen ergeben; nämlich denen, die sich gewissermaßen additiv aus einfachen Ketten zusammensetzen lassen. Dies ist aber nicht in allen Systemen die einzige ausbeutbare Form von Regelmäßigkeiten für Agenten, die mit ihrer Umgebung interagieren.
--
Insgesamt landen wir, wenn wir Naturalismus ernst nehmen, meiner Ansicht nach zwangsläufig bei einer offen komplexen evlutionär-systemtheoretischen Erkenntnistheorie. Die einzige für mich sichtbare Alternative setzt einen Begriff von Wahrheit oder Erkenntnis voraus, der sich aus logischen Gründen nicht in einer Theorie kognitiver Prozesse als einer Theorie von Vorgängen in natürlichen Systemen explizieren lässt und daher dem naturalistischen Weltbild widerspricht. Für die Beseitigung vorgeblich irreduzibler Begriffe von Wahrheit oder Erkenntnis gilt dabei meines Erachtens etwas ähnliches wie für die Beseitigung Gottes: Scheinbar wird die Welt durch den Verzicht auf den Taschenspielertrick komplizierter. In Wirklichkeit wird ihre Komplexität behandelbar.