Meine Diskrepanz mit MSS besteht insbesondere in seinem Umgang mit den Ergebnissen der Hirnforscher Singer und Roth.
Wenn ich mich im Folgenden schuldig mache zu pauschalisieren (bzw. grob zu vereinfachen), dann tue ich das unter dem Eindruck, dass MSS und mich zumindest hier ein Verständnis für den Nutzen dieses Vorgehens eint. (Mich gruselt es inzwischen vor diesem Schrei nach „Differenziertheit“, die uns den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen lässt). Ich suche nach der einfachen Sprache, wobei ich mir auch der Gefahr falscher Vereinfachung (Verallgemeinerung) bewusst bin, sehr fatal finde ich diese z. B: bei den infantilen Kategorien gut und böse. Und entschuldigt zunächst mal meine Anführungszeichen, die benutze ich v. a. wenn ich meine dass es eine Sache nicht ganz trifft, bzw. dass es hier leicht Missverständnisse gibt, aber darüber kann man sich ja dann immer noch verständigen.
An den Ergebnissen der Hirnforschung gefällt MSS, dass sie den Beweis für ein monistisches, naturalistisches Menschenbild liefert, das sich von der Idee einer von körperlichen Prozessen auch nur partiell unabhängigen Vernunft verabschiedet. Auch wenn ich das nicht ganz so bahnbrechend finde, wie er das offenbar tut, gehe ich an der Stelle noch mit. Aber ich halte das für kein Spezifikum von Singer und Roth, sondern finde das in verschiedenen Artikeln von Hirnforschern im Allgemeinen, also kein Grund gleich der gesamten Richtung dieser beiden Autoren zu folgen.
„Das vielleicht größte Manko der Debatte bestand darin, dass in ihr zwei grundverschiedene Begriffe von Willensfreiheit auftauchten, was dazu führte, dass die Diskutanten aneinander vorbei redeten.“ „Wir sollten stattdessen einen Begriff verwenden, der das, worum es den Verteidigern der Freiheit eigentlich geht, exakter trifft und der zudem, wie schon David Hume zeigte, den Vorteil hat, dass er vom antinaturalistischen Begriff der Willensfreiheit trennscharf abgegrenzt werden kann: den Begriff der „Handlungsfreiheit“. Ich kann MSS insoweit folgen, dass das kleine Wörtchen „frei“ eine ziemlich Worthülse darstellt und es dabei schon irgendwie darauf ankommt, von was der Wille eigentlich frei sein soll, dass der Wille biologische Grundlagen hat, weil das Organ in dem er sich entwickelt, das Gehirn nun mal zweifellos ein Naturprodukt ist, will ich sicher nicht abstreiten. Auch dass der Wille sich als Replik (bzw. in Reflexion) auf vorfindbare gesellschaftliche Zustände bildet und nicht irgendwie überirdisch in die Welt kommt, ist kein Streitpunkt.
Ich kann MSS auch darin folgen, dass sich viele Leute eine „Freiheit“ nur einbilden, die sie objektiv gar nicht haben. Mit diesem Kunstgriff der imaginären Freiheit wird versucht unschöne Lebensverhältnisse ideell besser aushalten zu können, anstatt praktisch etwas zu ändern. (wenn ich ihn so richtig verstehe in „Von der illusorischen zur realen Freiheit“). Aber ob es deshalb Sinn macht den Begriff „Willensfreiheit“ gänzlich zu meiden, halte ich für fraglich. Es gibt so viele Begriffe, die man neu erfinden müsste, weil sie in sehr unterschiedlicher Weise verwendet werden, also lasst uns über Inhalte reden. (Ich fürchte die ausufernde Seite von „Begriffshubereidebatten“, bei denen am Ende nur noch Wirrwarr herrscht, über was man da eigentlich streitet.)
Von der Stoßrichtung sehr gut fand ich MSS folgenden Absatz: „Das Problem: Sowohl die negative (schuldbeladene) als auch die positive (stolzgeschwängerte) Bilanzierung eigener Leistungen hemmt die anzustrebende Veränderung des Individuums hin zu größerer Humanität. Das Individuum bleibt ICH-fixiert, gefangen in selbstwertdienlichen Wahrnehmungsverzerrungen in Bezug auf die Umwelt und die eigene Person. Es versucht, sich selbst über die eigenen Schwächen hinwegzutäuschen, die eigene Biographie zu retuschieren, um misslichen Minderwertigkeitsgefühlen zu entgehen. Misslingt dieser Versuch, versinkt das Individuum in Ohnmachtgefühle und Selbstmitleid. Zu kritischer Selbstanalyse ist es unter dieser Voraussetzung kaum fähig. ……..“ Persönliche Schuldzuweisungen finde ich insgesamt sehr lästig, sie bringen einen auf dem Weg sich die Welt zu erklären, keinen Zentimeter von der Stelle, sondern führen nur zum notwendig zirkulären Kampf mit dem eigenen oder anderer „Gewissen“. Oder um es mit Harry Krämer etwas krasser auszudrücken: der dogmatisierte Irrtum Schuld ist „Legitimation infantiler Grobheit“.
Wo ich mich von MSS dann trenne, liegt wahrscheinlich darin begründet, dass er dem geflügelten Spruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ m. E. etwas zu viel Sympathie entgegenbringt. Das habe ich auch mal (er war ja ursprünglich sehr kritisch gemeint), aber inzwischen sehe ich in der Instrumentalisierung dieses Spruchs in den Geisteswissenschaften ein Dogma, das dem Relativismus huldigt. Der Satz ist laut Wiki eine verfälschende Verkürzung eines Zitats. Mit seiner Aussage behauptete Sokrates nicht, dass er nichts wisse. Vielmehr hinterfragt er das, was man zu wissen meint. Denn vermeintliches Wissen ist nur ein beweisloses Für-selbstverständlich-Halten, das sich bei näherer Untersuchung als unhaltbares Scheinwissen entpuppt. Das ist für mich ein Plädoyer für „gründliches Nachdenken“, aber nicht für die Relativität allen Wissens. „Unser Verständnis hat vorgegebene Grenzen, dennoch bleibt uns die Welt nicht verschlossen“ (Krämer). Das macht einen großen Unterschied aus. In den Geisteswissenschaften wird dieser Satz (oder Ähnliche) dagegen immer wieder dazu verwendet, prinzipielle Zweifel an der Objektivierbarkeit von Urteilen zu säen. Und wenn man diesem Standpunkt keine Referenz erweist, steht man schnell als gefährlicher Dogmatiker in der Ecke, der meint die „Wahrheit“ gepachtet zu haben. Wenn ich aber umgekehrt den Glauben teile, dass alle meine Urteile nur fürchterlich subjektiv sein können, dann verdammt mich das in letzter Konsequenz zur Handlungsunfähigkeit, ich muss dem Status quo huldigen, wenn ich z. B. nicht wissen kann, welch gefährlicher Wolf eigentlich in meinen und meiner Mitmenschen Tiefen schlummert, denn wenn wir ihm nachgeben, könnte es ja noch viel schlimmer kommen als es jetzt schon ist.
MSS schreibt, dass Roth und Singer mit ihrer Leugnung der Willensfreiheit nicht die etablierte wissenschaftliche Denktradition auf den Kopf stellten, sie lieferten bloß weitere Belege für eine Auffassung, die im Rahmen der empirischen Natur- und Sozialwissenschaften längst etabliert ist. Ja leider! Roth und Singer tragen dazu bei, dass nun auch noch von naturwissenschaftlicher Seite das sehr prinzipielle Misstrauen gegen unsere „Menschennatur“ bestätigt wird, nun muss ich wohl auch noch damit rechnen, dass mich die Mechanismen meines Gehirns versklaven. (anstatt mir ihrer bewusst zu werden, um meinen Verstand als Instrument optimal nutzen zu können.) Oder um es mit Engels auszudrücken „Sätze, die in der Philosophie seit Jahrhunderten aufgestellt, die oft genug längst philosophisch abgetan sind, treten oft genug bei theoretisierenden Naturforschern als funkelneue Weisheit auf und werden sogar eine Zeitlang Mode.“ Ich denke MSS schlägt sich da auf eine Seite, auf die (wie ich nach Lektüre seiner sonstigen Schriften meine) eigentlich nicht hingehört. Fatal bei Roth und Singer finde ich zunächst ihren neurobiologischen Determinismus (durch neurologische Prozesse ist unser Tun irgendwie vorherbestimmt, wobei man über den Inhalt dieser Bestimmtheit gar nichts erfährt, weil man offenbar kaum etwas mit Gewissheit aussagen kann. Erstaunlich, wie viel Raum bei diesen „Wissenschaftlern“ dem Thema gewidmet ist, was man alles nicht weiß. „Da die Forschung noch weit vom Verstehen aller Gehirnfunktionen entfernt ist, sehen sich nicht nur religiös gebundene Menschen in ihrer Meinung bestärkt, der Mensch sei unergründlich.“ Krämer - Ich habe auch die Abstimmung in diesem Forum gelesen, das 88% dem Determinismus anhängen, da muss ich mich noch näher mit befassen, wie das kommt. Also Determinismus als vorherbestimmter Plan, der irgendwie wirkt, da schließe ich mich dann eher in folgendem Sinne ganimed an:
„Ich würde sagen, es gibt keinen Plan. Deshalb ist es nicht Größenwahn - er bezieht sich auf ein Kunze-Lied -sondern Zeitverschwendung, ihn verstehen zu wollen.“
Auch einen elitären Standpunkt sehe ich in den Ausführungen von Singer und Roth vorliegen - schon allein indem sie sich selbst zur Ausnahme von der behaupteten Regel machen (und missversteht das nicht als moralische Kritik - ich halte nichts vom „Gutmenschentum“). Wenn die Versöhnung von Geistes- und Naturwissenschaften so aussieht, dass nun auch Naturwissenschaftler einsehen, dass man eigentlich nichts für „wahr“ halten darf, bzw. es diesen hirnforschenden „Autoritäten“ überlassen muss, so geht dies sehr System erhaltend genau in die falsche Richtung.
„Je besser wir die Gehirnforschung verstehen und auch die Genetik und wie sich Hirne entwickeln und wie sie mit der Umwelt umgehen. Umso besser verstehen wir eigentlich was für eine grandiose Freiheitsmaschine unser Gehirn ist", so Manfred Spitzer. "Je besser es funktioniert und je höher es entwickelt ist umso freier ist derjenige, der mit diesem Gehirn rumläuft."
Man könnte ja sehr wohl, wofür schon Biofeedbackmethoden eigentlich ein Beleg sind und auch andere Hirnforscher plädieren, die Ergebnisse der Hirnforschung dazu nutzen, das „Unbewusste“ auch den „Laien“ bewusst zu machen, anstatt darüber vor Ehrfurcht zu erstarren, welche unbegreifliche Komplexität in mir schlummert, die nur ein Hirnforscher wie Roth o. Singer überhaupt und dann auch nur ahnungsweise zu ergründen in der Lage sind, obwohl sie doch auch „nur“ Menschen sind. Auch Psychotherapien sind eigentlich schon ein gewisser Beleg dafür, dass es eine Frage der Bewusstmachung ist, mit „störenden“ Gefühlen in uns (unbewussten Ängsten) umzugehen, wobei diese Therapien allerdings auch notwendig in einer Hinsicht scheitern, weil sie nicht die eigentlichen Ursachen beseitigen können.
Denn wie kommt es eigentlich zu diesen Gefühlen mit denen unser Verstand nicht ins Reine kommt? Meine These wäre da, dass unsere Menschennatur keineswegs so abstoßend ist, dass sie ein Gesellschaftssystem benötigt, das ständig unsere „Wolfsnatur“ zügelt. Ich sehe vielmehr in diesem System den Grund dafür, dass so mancher unserer Gattung aus den Widersprüchen in denen er praktisch steckt und die hier meist nur gegen und nicht mit anderen zu lösen sind, recht abstoßende Eigenarten und „Triebe“ entwickelt.
So viel für den Anfang, ich warte jetzt erst mal, ob Interesse an dem Thema besteht…..
(Sorry hatte das Thema zunächst an falscher Stelle eingestellt)