Emergentismus und Physikalismus

Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 02:16

Falk hat geschrieben:Ganz abgesehen davon sind z.B. Eliminativisten keine Reduktionisten.


Apropos, ich habe mich eben daran erinnert, dass es eine Unterscheidung zwischen konservativen und eliminativen Reduktionen gibt. Beispiel:
Wasser ist auf H2O reduziert worden, d.h. Wasser ist nichts weiter als H2O. Das bedeutet aber nicht, dass es Wasser gar nicht gibt. Natürlich gibt es Wasser, aber es ist eben nichts über H2O Hinausgehendes. Die Wasser-H2O-Reduktion ist also konservativ, weil sie Wasser nicht für nichtexistent erklärt.
Dagegen ist die Reduktion von (von einem Dämon) Besessenen auf Psychotiker eliminativ, weil es tatsächlich Bessessene nicht gibt und niemals gegeben hat. Man kann in diesem Fall zwar auch sagen, Besessene seien nichts weiter als Psychotiker, aber hier hat "nichts weiter" einen anderen Sinn als in der Aussage, Wasser sei nichts weiter als H2O.

Was ich mich jedoch frage, ist, ob im Falle des Geist-Körper-Verhältnisses eine konservative Reduktion der psychischen Eigenschaften auf die physischen Eigenschaften nicht doch einer eliminativen Reduktion gleichkommt.
Beim physikalischen Beispiel Wasser = H2O oder Wärme = Molekularbewegung besteht die Reduktionsbeziehung zwischen rein objektiven Sachen, wohingegen im Falle der Reduktion der psychischen Eigenschaften auf die physischen Eigenschaften eine "kategoriale Diskrepanz" zwischen etwas Subjektivem und etwas Objektivem zutage tritt.
Von daher scheinen mir Verweise wie die auf die Wasser-H2O-Reduktion hinkende Analogiebeispiele zu sein.

Eine funktionale Reduktion ist insofern noch konservativ, als sie die subjektiven Bewusstseinsgegebenheiten nicht für gänzlich nichtexistent erklärt, sondern "nur" auf ihre kausale Rolle in Bezug auf das Verhalten des Organismus reduziert.
Dem Funktionalismus nach sind die subjektiven Geisteszustände zwar da, aber ihr Wesen erschöpft sich vollständig in ihrer kausalen Rolle, d.h. sie sind sozusagen nichts in sich selbst, das transfunktionale Qualitäten nichtphysischer Art aufweist, sondern bloß "black boxes".
Diese konservative, besser semi-konservative funktionale Reduktion ist aber nichtsdestominder zumindest auch semi-eliminativ, weil sie den psychischen Erlebnissen und Zuständen zwar funktionale Qualitäten zuspricht, aber reale phänomenale Qualitäten abspricht.

Eine Typenidentitäts-Reduktion ist in meinen Augen hingegen nicht minder eliminativ, weil die Gleichsetzung von psychischen und physischen Eigenschaften letztlich dazu führt, dass das phänomenale Bewusstsein insgesamt für irreal erklärt wird.

Die eliminativistisch-reduktionistischen Ansätze verfehlen die Wirklichkeit, weil sie das offensichtlich Wesentlichste am Bewusstsein, nämlich seine subjektiv-phänomenale Dimension, schlichtweg übergehen, indem sie nichts Psychisches sui generis anerkennen, durch das etwas wirklich ontologisch Neuartiges, weil nicht rein Physisches, auf evolutionäre Weise in die Welt gekommen ist.

Der Versuch der extremen Physikalisten, die subjektive Dimension in lebenden Organismen vollständig auf die objektive Dimension zu reduzieren, ist meiner Meinung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 03:32

Falk hat geschrieben:Ich merk's. Du bist, wie es scheint, von dualistischen Intuitionen so wenig frei wie die allermeisten anderen Menschen. Dessen eingedenk ist dein Standpunkt nur konsequent (gleiches gilt, wie es scheint, auch für ostfriese). Ich komme damit aber gar nicht klar, weil mir diese Intuitionen samt und sonders fehlen. Das merke ich auch im Philo-Studium immer wieder - selbst unter überzeugtesten Naturalisten herrschen dieselben Intuitionen vor wie unter Theisten aller Couleur.


Zwischen den Naturalisten und den Supernaturalisten besteht ein wesentlicher Unterschied:
Erstere sind höchstens Eigenschaftsdualisten, wohingegen Letztere sowohl Eigenschafts- als auch Substanzdualisten sind.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Fr 21. Nov 2008, 03:34

Aha, doch noch versteckte Feuernester dualistischer Gedanken in dem schon für gelöscht gehaltenen Aschehaufen:
Myron hat geschrieben:Der Versuch der extremen Physikalisten, die subjektive Dimension in lebenden Organismen vollständig auf die objektive Dimension zu reduzieren, ist meiner Meinung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Wieso nimmst du das an? Wieso ist das zum Scheitern verurteilt? Lass es die Leute doch erstmal versuchen.
Oder mal anders herum gefragt. Statt top down die Reduktion anzuzweifeln, schauen wir doch mal bottom up auf den Übergang von physikalischer Masse auf psychische Phänomene.

Was ist denn deiner Meinung nach in deinem Kopf außer grauer, glibbriger, gut durchwässerter Masse? Was ist das X, das man zum physikalischen hinzu addieren muss, um ein Bewusstsein mit psychischen Phänomenen zu erhalten? Ich verstehe dich jedenfalls so, dass du dieses X für nicht leer hälst, weil du ja die Reduktion auf das physikalische ohne X für unmöglich hälst.

Um so eine weitreichende Annahme zu machen, müsstest du doch eine recht genaue Vorstellung haben, was X ist. Oder spielt hier nur wieder die von Falk eingeführte dualistische Intuition mit hinein? Ich habe sie nicht und kann deshalb weit und breit kein X entdecken oder mir vorstellen.

Myron hat geschrieben:Die eliminativistisch-reduktionistischen Ansätze verfehlen die Wirklichkeit, weil sie das offensichtlich Wesentlichste am Bewusstsein, nämlich seine subjektiv-phänomenale Dimension, schlichtweg übergehen, indem sie nichts Psychisches sui generis anerkennen, durch das etwas wirklich ontologisch Neuartiges, weil nicht rein Physisches, auf evolutionäre Weise in die Welt gekommen ist.

Subjektiv oder objektiv, das sind doch nur verschiedene Blickrichtungen auf dasselbe. Und das einzig Besondere hier ist, dass du zufällig die physikalische Materie bist, um die es hier geht, so dass du hier tatsächlich die subjektive Sicht einnehmen kannst. Bei Planetenbewegungen oder anderen physikalischen Themen ging das nicht. Aber wenn Planeten ein Bewusstsein hätten, würden sie sich aus dualistischen Gründen vielleicht auch gegen eine Reduktion auf Physik wehren, und hätten damit genau so Unrecht.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 04:20

ganimed hat geschrieben:Was ist denn deiner Meinung nach in deinem Kopf außer grauer, glibbriger, gut durchwässerter Masse?


Unzählige hochkomplexe Prozesse, die sich von außen betrachtet als dynamische neuronale Strukturen zeigen und von innen betrachtet als eine in einem einheitlichen Bewusstseinsstrom auftauchende Vielfalt von unterschiedlichen Erscheinungen: Empfindungen, Gefühle, Stimmungen, innere Bilder, Gedanken.

ganimed hat geschrieben:Subjektiv oder objektiv, das sind doch nur verschiedene Blickrichtungen auf dasselbe.


Meine Rede!

"Mein Geist überhaupt als Gegenstand der innern Erfahrung ist eins und dasselbe mit dem Lebensproceß meines Körpers als dem Gegenstand der äußern Erfahrung. (...) Es ist also nur eine verschiedene Erscheinungsweise der einen und gleichen Realität, welche mir meine Person einmal als meinen Geist innerlich, und dann als den Lebensproceß meines Körpers äußerlich zeigt."
(Jakob Friedrich Fries: "Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft", Bd. 2, S. 239, 1831)

Ich bin, wie gesagt, der Auffassung, dass die subjektiv erlebbaren psychischen Prozesse mit objektiv wahrnehmbaren physischen (neurophysiologischen) Prozessen identisch sind (das nennt sich im Englischen "token physicalism"), aber nicht, dass die subjektiven und die objektiven Attribute der identischen psychophysischen Prozessen identisch sind.
(Zum Beispiel ist die besondere Erlebnisqualität eines Schmerzes, d.h. die jeweilige Art und Weise, wie er sich anfühlt, keine physische Eigenschaft desselben.)

ganimed hat geschrieben:Und das einzig Besondere hier ist, dass du zufällig die physikalische Materie bist, um die es hier geht, so dass du hier tatsächlich die subjektive Sicht einnehmen kannst. Bei Planetenbewegungen oder anderen physikalischen Themen ging das nicht. Aber wenn Planeten ein Bewusstsein hätten, würden sie sich aus dualistischen Gründen vielleicht auch gegen eine Reduktion auf Physik wehren, und hätten damit genau so Unrecht.


Damit du mich nicht falsch verstehst, ich halte nichts vom Panpsychismus.
Bewusstsein und Geist sind in meinen Augen keine fundamentalen Charakteristika der Realität.
Sie kommen nur bei Tierarten vor, deren Angehörige sich im Laufe von Abermillionen Jahren Schritt für Schritt zu immer komplexeren materiellen Systemen mit einer immer komplexeren subjektiven Dimension emporgebildet haben, welche treffend als "das Innensein des Organismus" bezeichnet werden kann.

Kosmologisch betrachtet, ist der Grund des Seins für mich im Gegensatz zu den Theisten kein unstoffliches göttliches Bewusstsein, sondern irgendein bewusstloser Kraftstoff. In dieser Hinsicht bin ich ganz Materialist der alten Schule: Am Anfang war ES und nicht ICH.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 06:46

Wen's interessiert, hier sind zwei weitere Texte zur Thematik:

Michael Pauen: "Mythen des Materialismus": http://www.michael-pauen.de/Mythen.rtf

Sven Walter: "Ist der Epiphänomenalismus absurd? Ein frischer Blick auf eine tot geglaubte Position": http://www.philosophy-online.de/pdf/idea_fv.pdf

Leider können wir hier viele wichtige Detailpunkte nur oberflächlich anreißen.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 07:39

ostfriese hat geschrieben:Wer dagegen z.B. scharf zwischen Psychischem und Physischem trennt, bezieht damit umgehend Position (eine dualistische in diesem Fall). (...) Wobei in dieser Abgrenzung schon wieder die "Nichtreduzierbarkeit a priori" lauert...


Kim's folgender Kommentar dürfte dir zusagen:

"We have a tendency to read 'nonphysical' when we see the word 'mental', and think 'nonmental' when we see the word 'physical'. This has the effect of making the idea of physical reduction of the mental a simple verbal contradiction, abetting the idea that physical reduction of something we cherish as a mental item, like thought or feeling, would turn it into something other than what it is. But this would be the case only if by 'physical' we meant 'nonmental'. We should not prejudge the issue of mind-body reduction by building irreducibility into the meanings of our words."

(Kim, Jaegwon. Physicalism, or Something Near Enough. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2005. p. 160)
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Fr 21. Nov 2008, 10:29

@Myron
Ich hatte geschrieben: "Subjektiv oder objektiv, das sind doch nur verschiedene Blickrichtungen auf dasselbe."
Du hast dann geschrieben: "Meine Rede!"

Vorher hattest du aber geschrieben: "Der Versuch der extremen Physikalisten, die subjektive Dimension in lebenden Organismen vollständig auf die objektive Dimension zu reduzieren, ist meiner Meinung nach von vornherein zum Scheitern verurteilt."

Ich sehe da bei dir einen Widerspruch. Wenn subjektiv und objektiv nur verschiedene Blickrichtungen auf dasselbe sind, dann ist die "Reduktion" von subjektiv auf objektiv gar keine Reduktion, sondern nur eine Überführung. Dabei geht nichts verloren und es wird nichts hinzugefügt. Wieso also soll eine Reduktion zum Scheitern verurteilt sein?
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Fr 21. Nov 2008, 11:33

Hab nur kurz Zeit zwischendurch...

@Myron: Ja, das Zitat von Kim sagt mir zu. :up:

@ganimed: Myron hat mehrfach betont, dass er subjektive Qualitäten und objektive Merkmale eines neuronalen Systems als Kehrseiten einer Medaille sieht, welche wir aus unterschiedlichen Perspektiven (Innenaspekt, Außenaspekt) betrachten.

Er widerspricht sich hier also nicht.

Meine Auffassung ist aber eine andere. Ich halte den "Perspektivechsel" bereits für eine irreführende Metapher. Wir schauen nicht von außen auf eine objektive Außenwelt und von innen auf eine subjektive Innenelt, sondern wir schauen immer aus der gleichen Perspektive auf interne Rekonstruktionen von Objekten. Sowohl objektive Eigenschaften als auch subjektive Qualitäten sind durch neuronale Strukturen objektiv repräsentiert. Wir können unsere Hirnstrukturen nur nicht isomorph im Gehirn selbst abbilden, da das Gehirn dazu über sich selbst hinauswachsen müsste. Deshalb sind genau jene Merkmale, die erst auf der höchsten Komplexitätsstufe erscheinen, nicht verlustfrei reduzierbar auf darunter liegende Erklärungsebenen.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Falk » Fr 21. Nov 2008, 12:27

Myron hat geschrieben:Zwischen den Naturalisten und den Supernaturalisten besteht ein wesentlicher Unterschied:
Erstere sind höchstens Eigenschaftsdualisten, wohingegen Letztere sowohl Eigenschafts- als auch Substanzdualisten sind.

Schon klar, Myron. Aber die zugrunde liegende dualistische Intuition ist doch die gleiche. Ich will ja nicht sagen, dass eure Haltung dieselbe sei wie die der Supernaturliasten - nur, dass ich sie für genauso relevant halte.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Fr 21. Nov 2008, 14:32

ostfriese hat geschrieben:Sowohl objektive Eigenschaften als auch subjektive Qualitäten sind durch neuronale Strukturen objektiv repräsentiert.

Auch du mein Sohn Brutus, weist hier denselben Widerspruch auf, den ich auch bei Myron sehe. Erst sagt ihr, A und B sind zwei äquivalente Beschreibungen derselben Medaille. Aber dann plötzlich heißt es offenbar, dass man die Medaille mit B nicht verlustfrei beschreiben könne. Also dass sich eine A-Beschreibung nicht verlustfrei auf B reduzieren lasse. Ja watt denn nu?

ostfriese hat geschrieben:Deshalb sind genau jene Merkmale, die erst auf der höchsten Komplexitätsstufe erscheinen, nicht verlustfrei reduzierbar auf darunter liegende Erklärungsebenen.

Nicht verlustfrei? Was verlöre man denn konkret, wenn man es täte? Was an dem Stau ist mit Autos nicht beschreibbar?
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 20:10

ostfriese hat geschrieben:Wieder der gleiche Denkfehler: Wenn Du a priori unterstellst, dass psychische Merkmale keine kausale Rolle spielen, dann kannst Du daraus nicht den Epiphänomenalismus ableiten, sondern hast eine tautologische Konstruktion.


Wenn sie eine kausale Rolle spielen, dann sind sie entweder mit physischen Merkmalen identisch oder das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität ist falsch.

ostfriese hat geschrieben:Die Wirkungsfähigkeit ist nicht 'transphysischer Art'! Es gibt diese Grenze nicht, die Du unterstellst. Es gibt nur Strukturunterschiede zwischen unterschiedlich komplexen materiell-energetischen Systemen. Und diese Strukturunterschiede können wir nicht ohne Verlust auf beliebig tiefer liegende Modellebenen projizieren.


Es bleibt das Problem, wie höherstufige systemische Eigenschaften wie die psychischen in ihrem System "nach unten" wirken können (Stichwort: "downward causation"), wenn sie nicht auf rein physische Eigenschaften reduzierbar sind, was dem Emergentismus zufolge ja der Fall ist.
Der Emergentist betrachtet die psychischen Eigenschaften als physikalisch irreduzibel und will keine nichtphysikalische Kausalität anerkennen, aber auch nicht die Epiphänomenalität der psychischen Eigenschaften. Das lässt sich zusammen aber nicht stimmig vertreten, denn letztlich gibt es für einen Naturalisten nur eine kohärente Alternative (im Hinblick auf psychische Eigenschaften):
Entweder reduktionistischer bzw. eliminativistischer Physikalismus oder epiphänomenalistischer Physikalismus!

ostfriese hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Wenn nein, dann kann das Psychische als Psychisches allein nichts bewirken, sondern ist ganz und gar auf diejenigen kausalen Kräfte und Energieformen angewiesen, die die Physik kennt.

Das ist ein gänzlich reduktionistisches Argument. Du vermischt wieder Realität und Realitätsbeschreibung.


Ich denke nicht, denn ich vermag sehr wohl zwischen den psychologischen und physikalischen Prädikaten und den entsprechenden natürlichen Eigenschaften, die sie repräsentieren, zu unterscheiden.

ostfriese hat geschrieben:Ich gebe "die" Kausalität auf, aber nicht Kausalität. Sie ist eine Kategorie unserer Beschreibungen, nicht ein Wesenszug der Natur. Auf physikalischer Ebene können wir sie mit dem Energieübertrag identifizieren, ja. Aber das heißt nicht, dass eine solche Identifizierung auf allen Systemebenen Voraussetzung dafür ist, von realer Kausalität zu sprechen.


Aha, du berufst dich also auf eine andere Auffassung von Kausalität als die auf physikalische Prozesse bezogene, bei der es um den Austausch von physikalischen Erhaltungsgrößen geht.
("A conserved quantity is any quantity which is universally conserved, and current scientific theory is our best guide as to what these are. For example, we have good reason to believe that mass-energy, linear momentum, and charge are conserved quantities."
[http://plato.stanford.edu/entries/causation-process/#ConQuaThe])

Was kommt da alternativ infrage?
Schauen wir mal:

"One finds analyses of causation in terms of nomological subsumption (Davidson 1980d, Kim 1973, Horwich 1987, Armstrong 1999), statistical correlation (Good 1961 and 1962, Suppes 1970, Spirtes, Glymour, and Scheines 1993, Kvart 1997 and 2004, Pearl 2000, Hitchcock 2001), counterfactual dependence (Lewis 1986a and 2000, Swain 1978, Menzies 1989b, McDermott 1995 and 2002, Ganeri, Noordhof, and Ramachandran 1996, Yablo 2002, Sartorio 2005), agential manipulability (Collingwood 1940, Gasking 1955, von Wright 1975, Price and Menzies 1993, Woodward 2003), contiguous change (Ducasse 1926), energy flow (Fair 1979, Castaneda 1984), physical processes (Russell 1948, Salmon 1984 and 1998, Dowe 1992 and 2000), and property transference (Aronson 1971, Ehring 1997, Kistler 1998). One also finds views that are hybrids of some of the above (Fair 1979, Dowe 2000, Paul 2000, Schaffer 2001, Hall 2004, Beebee 2004b), along with primitivism (Anscombe 1975, Tooley 1987 and 2004, Carroll 1994, Menzies 1996) and even eliminativism (Russell 1992, Quine 1966)."

Zur Vereinfachung:

"Fortunately, the details of these many and various accounts may be postponed here, as they are variations on two basic themes. In practice, the nomological, statistical, counterfactual, and agential accounts tend to converge in the indeterministic case. All understand connection in terms of probability: causing is making more likely. The change, energy, process, and transference accounts converge in treating connection in terms of process: causing is physical producing. Thus a large part of the controversy over connection may, in practice, be reduced to the question of whether connection is a matter of probability or process."

(http://plato.stanford.edu/entries/causation-metaphysics)

Was davon schwebt dir vor?
Nehmen wir mal die allseits beliebte Theorie, die Verursachungen durch "counterfactual dependencies", also durch kontrafaktische Abhängigkeiten erklärt.

"The basic idea of counterfactual theories of causation is that the meaning of causal claims can be explained in terms of counterfactual conditionals of the form 'If A had not occurred, C would not have occurred'."
(http://plato.stanford.edu/entries/causa ... terfactual)

Beispiel:
Jemand hat so heftige Bauchschmerzen, dass er anfängt zu schreien.
Nun kann auch ich im Rahmen meiner epiphänomenalistischen Auffassung sagen, dass der Betroffene nicht angefangen hätte zu schreien, wenn die gefühlte Schmerzhaftigkeit des Schmerzes nicht da gewesen wäre. Denn wenn diese nicht da gewesen wäre, dann wäre der ganze Schmerz als ein psychophysisches Ereignis nicht da gewesen, welchem es wesentlich ist, dass es eine subjektive Seite hat, die unabtrennbar in ihm inbegriffen ist. Und wenn der ganze Schmerz nicht da gewesen wäre, dann hätte der Betroffene auch nicht geschrien (ceteris paribus).
Aber dass der Schmerz als eine physische Ursache von seiner erlebten Schmerzhaftigkeit kontrafaktisch abhängig ist, bedeutet nicht, dass die subjektive-phänomenale Seite des Schmerzereignisses eine Rolle bei der Hervorrufung der Schreie spielt, die man getrost als eine "kausale" bezeichnen kann.

Klar, man kann den Begriff der Kausalität so umdeuten, dass der Satz "Psychische Eigenschaften spielen eine kausale Rolle" wahr wird. Und wenn er bedeutet, "Das Wirken psychophysischer Ereignisse ist von deren psychischen Eigenschaften kontrafaktisch abhängig", dann stimme ich ihm sogar zu. Aber wenn ich behaupte, dass psychische Eigenschaften keine kausale Rolle spielen, dann meine ich damit etwas anderes.

(Siehe dazu: http://plato.stanford.edu/entries/menta ... on/#AppCou)

ostfriese hat geschrieben:Außerdem muss sogar der Begriff "Energie" modellhaft verstanden werden.


Was meinst du damit?

ostfriese hat geschrieben:Es gibt keine "zwei Seiten einer Medaille", sondern nur emergente Eigenschaften unterschiedlich komplexer Systeme.


Dann sind es eben die ganzen Systeme, die sowohl eine subjektiv-psychische als auch eine objektiv-physische Seite haben. :santagrin:
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Fr 21. Nov 2008, 23:30

ganimed hat geschrieben:Auch du mein Sohn Brutus, weist hier denselben Widerspruch auf, den ich auch bei Myron sehe. Erst sagt ihr, A und B sind zwei äquivalente Beschreibungen derselben Medaille.

Nein, genau das sage ich ausdrücklich nicht. Lies nochmal, was ich im letzten Beitrag geschrieben habe.

ganimed hat geschrieben:Nicht verlustfrei? Was verlöre man denn konkret, wenn man es täte? Was an dem Stau ist mit Autos nicht beschreibbar?

Das Stauhafte. Es ist kein Merkmal von Automobilen, auch keine "Kehrseite". Autos haben nichts Stauhaftes, und Staus sind auch gar nicht darauf angewiesen, aus Autos aufgebaut zu sein. Das Stauhafte liegt allein in der Struktur des Staus, nicht in seinen Komponenten.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Sa 22. Nov 2008, 00:37

Myron hat geschrieben:Wenn sie eine kausale Rolle spielen, dann sind sie entweder mit physischen Merkmalen identisch oder das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität ist falsch.

Das kommt ganz darauf an, was man in den Begriff 'geschlossene Naturkausalität' hineindefiniert. Ich hab weiter oben gezeigt, wie wir Kausalität verstehen müssen, damit dieses Dilemma nicht auftritt.

ostfriese hat geschrieben:Die Wirkungsfähigkeit ist nicht 'transphysischer Art'! Es gibt diese Grenze nicht, die Du unterstellst. Es gibt nur Strukturunterschiede zwischen unterschiedlich komplexen materiell-energetischen Systemen. Und diese Strukturunterschiede können wir nicht ohne Verlust auf beliebig tiefer liegende Modellebenen projizieren.

Myron hat geschrieben:Es bleibt das Problem, wie höherstufige systemische Eigenschaften wie die psychischen in ihrem System "nach unten" wirken können (Stichwort: "downward causation")

Hast Du ein Problem mit der Aussage, dass ein Autofahrer auf die Bremse tritt, weil vor ihm ein Stau in Sicht kommt? In diesem Fall kann man die Erklärung reduzieren, doch die Frage ist, ob man dabei klüger wird (vgl. die Aussagen 1. bis 6. in meinem Beispiel).

Wenn man den Kausalitätsbegriff gerade so weit einengt, dass 'downward causation' ein Problem wird, tja, dann hat man eben eines. Ich hab keines.

Myron hat geschrieben:Das lässt sich zusammen aber nicht stimmig vertreten, denn letztlich gibt es für einen Naturalisten nur eine kohärente Alternative (im Hinblick auf psychische Eigenschaften):
Entweder reduktionistischer bzw. eliminativistischer Physikalismus oder epiphänomenalistischer Physikalismus!

Es nützt ja nun nix, dass Du das ohne weitere Argumente immer wieder beteuerst. Ich habe dargelegt, wo ich die Denkfehler sehe, die Deine Widerlegungen meiner Position scheitern lassen.

Insofern können wir die Diskussion wohl so langsam abschließen.

Myron hat geschrieben:Was davon schwebt dir vor?

Wie ich bereits schrieb, ist Kausalität keine Eigenschaft von Natur, sondern ein Modellbegriff, mit dem wir die Wechselwirkungen zwischen realen Systemen charakterisieren. Auf bestimmten Modellebenen finden wir Strukturen, die wir mit der Kausalität identifizieren, z.B. den Übertrag von Erhaltungsgrößen. Aber auch diese Größen selbst sind wieder nur modellhafte Konstrukte, mit denen wir Charakteristika bestimmter Wechselwirkungen abzubilden versuchen. Es muss daher keineswegs a priori Erfolg versprechen, das physikalische Modell für Kausalität auf Systeme beliebiger Komplexität übertragen zu wollen. Einen gescheiterten Versuch eines solchen Transfairs erkennt man daran, dass er gegenüber einem der Systemebene angepassten Erklärungsmodell schlicht erkenntnismindernd ist. Im diesem Fall gehen bei der Projektion wichtige Informationen über die Struktur des Explanandums verloren. Oder möchte irgendjemand behaupten, er habe sein eigenes Bewusstsein verstanden, als die Gammawellen-Synchronisation entdeckt wurde?

Myron hat geschrieben:bedeutet nicht, dass die subjektive-phänomenale Seite des Schmerzereignisses eine Rolle bei der Hervorrufung der Schreie spielt, die man getrost als eine "kausale" bezeichnen kann.

Wo Reduktion Erfolg verspricht, soll man sie versuchen. Wenn wir die neuronale Aktivierung des Schreiens mit der Aktivierung der Schmerzrezeptoren in physikalisch-kausale Verbindung bringen können, ist die Annahme widerlegt, das Schreien bedürfe einer selbstbewussten neuronalen Struktur. Und wir wissen ja auch von -- gemäß Spiegeltest -- nicht selbstbewussten Säugetieren, dass sie schreien.

Myron hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:Außerdem muss sogar der Begriff "Energie" modellhaft verstanden werden.
Was meinst du damit?

Wir stellen fest, dass wir bestimmte Phänomene sehr gut erklären oder prognostizieren können mit Hilfe von Theorien, die eine Erhaltungsgröße postulieren, welche je nach Zusammenhang "in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt". Damit meinen wir aber wieder nur, dass wir das, was wir 'Energie' nennen, mit sehr unterschiedlichen Modellen abbilden. Was ist ein Feld? Was ist Masse? Was ist Ladung? Was ist Bewegung? Einige Modelle, mit denen wir jene eine Substanz zu fassen versuchen, entstammen unmittelbar unserer Anschauung (Materie, Teilchen), andere wiederum sind aus der Mathematik gewonnene theoretische Konstrukte jenseits jeder Anschaulichkeit (Energiezustände als Lösungen der Schrödingergleichung). Niemand weiß, was Energie ist.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Sa 22. Nov 2008, 01:45

ostfriese hat geschrieben:Das Stauhafte. Es ist kein Merkmal von Automobilen, auch keine "Kehrseite". Autos haben nichts Stauhaftes,

Doch, Autos haben etwas Stauhaftes. Ihre Fahrer haben Reaktionszeiten, beim Fahren muss man einen Abstand zum Vorderauto einhalten, der mit zunehmender Geschwindigkeit auch zunimmt (oder es zumindest sollte). Jeder Fahrer bestimmt individuell, asynchron seine genaue Geschwindigkeit. Genau diese Eigenschaften braucht man, um bei dichtem Verkehr aus kleinen Abbremsungen vorne weiter hinten, wellenartig fortgesetzt, lange Wartezeiten entstehen zu lassen.

ostfriese hat geschrieben: und Staus sind auch gar nicht darauf angewiesen, aus Autos aufgebaut zu sein.

Stimmt. Staus sind aber auf bestimmte Eigenschaften der Stauelemente angewiesen, welche unter anderem von Autos erfüllt werden. Es liegt eben an den Autos, dass sie diese Eigenschaften mitbringen. Deshalb passt das Modell "Stau" auf das, was da auf Autobahnen mit Autos geschieht. Aber es geschieht eben mit Autos, nur mit Autos, nicht mit Staugeistern oder Stau-X-Teilchen oder dem "Stauhaften" an sich. Da sind wirklich nur Autos. Und im Gehirn sind wirklich nur physikalische Teile und Prozesse.

ostfriese hat geschrieben:Das Stauhafte liegt allein in der Struktur des Staus, nicht in seinen Komponenten.

Genau das stimmt nicht. Sonst könnte man ja vielleicht das Stauhafte nehmen und auch auf die Waggons eines einzelnen Güterzuges "stülpen". Kann man aber nicht. Die Waggons sind fest miteinander verbunden und bilden daher (auf einen Zug bezogen) niemals einen Stau. Das Stauhafte passt nicht, weil die Waggons eine wichtige Eigenschaft nicht mitbringen. Das Stauhafte liegt also in den Eigenschaften der Autos und fehlt in den Eigenschaften der Waggons. Die psychischen Phänomene existieren also nicht für sich, können nicht über irgendwas gestülpt werden oder beliebig irgendwo "auftauchen" sondern sind nur eine Sichtweise, ein Modell auf die einzig wirklich vorhandenen physischen Strukturen.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Sa 22. Nov 2008, 01:57

Myron hat geschrieben:Apropos, ich habe mich eben daran erinnert, dass es eine Unterscheidung zwischen konservativen und eliminativen Reduktionen gibt. Beispiel:
Wasser ist auf H2O reduziert worden, d.h. Wasser ist nichts weiter als H2O. Das bedeutet aber nicht, dass es Wasser gar nicht gibt. Natürlich gibt es Wasser, aber es ist eben nichts über H2O Hinausgehendes. Die Wasser-H2O-Reduktion ist also konservativ, weil sie Wasser nicht für nichtexistent erklärt.
Dagegen ist die Reduktion von (von einem Dämon) Besessenen auf Psychotiker eliminativ, weil es tatsächlich Bessessene nicht gibt und niemals gegeben hat. Man kann in diesem Fall zwar auch sagen, Besessene seien nichts weiter als Psychotiker, aber hier hat "nichts weiter" einen anderen Sinn als in der Aussage, Wasser sei nichts weiter als H2O.


Man kann den Unterschied wie folgt verdeutlichen:
Im Falle einer konservation Reduktion von Xen auf Ye wird das wahre Wesen von Xen enthüllt: Xe existieren, aber sie sind in Wirklichkeit nichts weiter als Ye.
Dagegen wird bei einer eliminativen Reduktion von Xen auf Ye enthüllt, dass Xe gar nicht existieren (und somit als Xe wesenlos sind), und dass diejenigen existierenden Dinge, die man irrtümlicherweise für Xe gehalten hat, in Wirklichkeit nichts weiter als Ye sind.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Sa 22. Nov 2008, 02:35

ganimed hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:Das Stauhafte liegt allein in der Struktur des Staus, nicht in seinen Komponenten.

Genau das stimmt nicht. Sonst könnte man ja vielleicht das Stauhafte nehmen und auch auf die Waggons eines einzelnen Güterzuges "stülpen". Kann man aber nicht. Die Waggons sind fest miteinander verbunden und bilden daher (auf einen Zug bezogen) niemals einen Stau. Das Stauhafte passt nicht, weil die Waggons eine wichtige Eigenschaft nicht mitbringen. Das Stauhafte liegt also in den Eigenschaften der Autos und fehlt in den Eigenschaften der Waggons.

Danke für dieses schöne Beispiel, mit dem Du Dich selbst widerlegst! Der einzige staurelevante Unterschied zwischen den Waggons und den Autos ist nämlich ihre Relativgeschwindigkeit (denn bei Relativgeschwindigkeit 0 zwischen je zwei beteiligten Autos haben wir auch dann keinen Stau, wenn sie nicht fest auf einem Zug montiert sind). Ein einzelnes Auto hat aber gar keine Relativgeschwindigkeit, also hat es auch nichts Stauhaftes!

Demnach sind alle Schlüsse, die Du aus Deiner Argumentation gezogen hast, ebenfalls ungültig.


Edit: Dennoch ist Dein Einwand in gewisser Hinsicht fruchtbar. Bereits einem System aus zwei in dichtem, sich zeitlich verringernden Abstand fahrenden Autos kann man etwas Stauhaftes zuschreiben. So wie man zwar nicht einer einzelnen Borste, aber bereits zwei dicht nebeneinander stehenden Borsten etwas Bürstenhaftes zuschreiben kann. Wenn man das auf die Emergenz psychischer Qualitäten überträgt, halte ich es für plausibel anzunehmen, dass auch sie allmählich auftreten. Dafür spricht auch, dass wir unterschiedliche Bewusstseinsgrade ja täglich erfahren, z.B., wenn wir morgens aufwachen. Die mit dem Bewusstsein identische Struktur wird jeden Morgen neu konstruiert.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Sa 22. Nov 2008, 12:20

ostfriese hat geschrieben:Die mit dem Bewusstsein identische Struktur wird jeden Morgen neu konstruiert.

Das Bewusstsein ist in der Tat recht flüchtig. Im Tiefschlaf ist es weg. Beobachtet man eine Autobahn, dann sehen die Naturwissenschaftler nur Autos mit einigen Parametern (Richtung, Geschwindigkeit, Masse, Anzahl der Aufkleber...). Erst in bestimmten Situationen ergeben sich auf der Autobahn flirrende, vorübergehende, flüchtige, "psychische" Phänomene (welche von Philosophen und Spiritualisten sicher tendenziell für mehr gehalten werden). Ein Stau entsteht, erreicht eine gewisse Länge und löst sich irgendwann wieder auf. Fast schemenhaft. Was übrig bleibt sind eigentlich nur die Autos. Der Stau war nur eine bestimmte Struktur, ein bestimmtes Phänomen auf der Menge der Autos.

Wie also könnte man daran zweifeln, dass sich der Stau auf Autos mit bestimmten Parametern (Abständen, Standgeschwindigkeit, ...) reduzieren lässt. Psychische Phänomene lassen sich, da bin ich ebenfalls überzeugt, vollständig auf physikalische Prozesse reduzieren.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Sa 22. Nov 2008, 13:18

ganimed hat geschrieben:Der Stau war nur eine bestimmte Struktur, ein bestimmtes Phänomen auf der Menge der Autos.

So kannst Du das sehen. Aber dann ist ein Auto auch nur ein flüchtiges Epiphänomen, ebenso jede Karosse, jeder Motor, jedes Schräubchen, jedes Molekül, jeder zerfallende Atomkern.

ganimed hat geschrieben:Wie also könnte man daran zweifeln, dass sich der Stau auf Autos mit bestimmten Parametern (Abständen, Standgeschwindigkeit, ...) reduzieren lässt.

Du kannst ja mal versuchen, einen Stau auf der Basis von Elementarteilchen zu beschreiben. Ich als Emergentist sage einfach: Da ist ein Stau -- und jeder weiß, was gemeint ist, niemand bestreitet seine Existenz.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Sa 22. Nov 2008, 14:22

ostfriese hat geschrieben:@ganimed: Myron hat mehrfach betont, dass er subjektive Qualitäten und objektive Merkmale eines neuronalen Systems als Kehrseiten einer Medaille sieht, welche wir aus unterschiedlichen Perspektiven (Innenaspekt, Außenaspekt) betrachten.


"Was dir auf innerem Standpunkte als dein Geist erscheint, der du selbst dieser Geist bist, erscheint auf äußerem Standpunkte dagegen als dieses Geistes körperliche Unterlage. Es ist ein Unterschied, ob man mit dem Gehirne denkt, oder in das Gehirn des Denkenden hineinsieht. Da erscheint ganz Verschiedenes; aber der Standpunkt ist auch ganz verschieden, dort ein innerer, hier ein äußerer. (...)
Die Naturwissenschaft stellt sich konsequent auf den äußeren Standpunkt der Betrachtung der Dinge, die Wissenschaft vom Geiste auf den inneren; die Ansichten des Lebens fußen auf dem Wechsel der Standpunkte, die Naturphilosophie auf der Identität dessen, was doppelt auf doppeltem Standpunkte erscheint; eine Lehre von den Beziehungen zwischen Geist und Körper wird die Beziehungen beider Erscheinungsweisen des Einen zu verfolgen haben."


(Gustav Th. Fechner: "Elemente der Psychophysik" [1860], Erster Teil, Einleitendes, I. Allgemeinere Betrachtung über die Beziehung von Leib und Seele.)

ostfriese hat geschrieben:Meine Auffassung ist aber eine andere. Ich halte den "Perspektivwechsel" bereits für eine irreführende Metapher. Wir schauen nicht von außen auf eine objektive Außenwelt und von innen auf eine subjektive Innenelt, sondern wir schauen immer aus der gleichen Perspektive auf interne Rekonstruktionen von Objekten.


Ein Perspektivwechsel ist gegeben, weil es einen Unterschied macht, ob ich meine Gehirnvorgänge als innerliche Geistesvorgänge wahrnehme oder als Körpervorgänge. Es ist so, wie Fechner sagt (siehe oben):

"Es ist ein Unterschied, ob man mit dem Gehirne denkt, oder in das Gehirn des Denkenden hineinsieht."

Wenn ich computertomographische Bilder meines eigenen Gehirns und der darin vorkommenden Nervenvorgänge betrachte, dann ist das etwas anderes, als wenn ich meinem Gehirn introspektiv bei der geistigen Arbeit zuschaue.

Ein Verständnisproblem habe ich mit deinem Begriff der "internen Objektrekonstruktion".
Was genau meinst du damit?

ostfriese hat geschrieben:Sowohl objektive Eigenschaften als auch subjektive Qualitäten sind durch neuronale Strukturen objektiv repräsentiert.


Hm, meinst du damit, dass die Nervenstrukturen als Informationsträger- und speicher fungieren?

ostfriese hat geschrieben:Wir können unsere Hirnstrukturen nur nicht isomorph im Gehirn selbst abbilden, da das Gehirn dazu über sich selbst hinauswachsen müsste. Deshalb sind genau jene Merkmale, die erst auf der höchsten Komplexitätsstufe erscheinen, nicht verlustfrei reduzierbar auf darunter liegende Erklärungsebenen.


Wir können uns die objektive Seite all der parallel ablaufenden Nervenvorgänge Im Gehirn nicht 1:1 ins Bewusstsein rufen, weil es sonst sofort zu einem "information overload", zu einer massiven Informationsüberflutung käme, die uns ins Chaos stürzen würde.
Was in Bewusstseinsinhalte umgewandelt wird, ist das Ergebnis einer enormen Reduktion von informationeller Komplexität.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Sa 22. Nov 2008, 18:41

ostfriese hat geschrieben:Das kommt ganz darauf an, was man in den Begriff 'geschlossene Naturkausalität' hineindefiniert.


Das:

"Naturkausalität, Prinzip der geschlossenen: das Postulat, die Kausalreihe der physischen Prozesse nirgends zu durchbrechen, die Ansicht, daß physische Prozesse wieder nur in physischen Prozessen ihre Ursachen haben, ohne Hereinspielen einer fremdartigen, geistigen Kausalitätigen Kausalität."
(http://www.textlog.de/4706.html)

"Causal Closure of the Physical Domain: If a physical event has a cause (occurring) at time t, it has a sufficient physical cause at t."

(Kim, Jaegwon. Philosophy of Mind. 2nd ed. Boulder, CO: Westview, 2006. p. 195)

ostfriese hat geschrieben:Wenn man den Kausalitätsbegriff gerade so weit einengt, dass 'downward causation' ein Problem wird, tja, dann hat man eben eines. Ich hab keines.


Was habe ich mir unter einem "uneingeengten" Kausalitätsbegriff vorzustellen?

Bei rein phyischen "Abwärts"-Verursachungen sind auch nur rein physische Ursachen im Spiel, und die Natur bleibt somit kausal geschlossen. Doch wir reden ja hier über die Frage, wie etwas rein Psychisches als eine Ursache in natürliche kausale Prozesse involviert sein könnte.

"It is commonplace to talk of mental events or phenomenal experience as if they were causal. But inasmuch as consciousness is a process entailed by integration of neural activity in the reentrant dynamic core, it cannot itself be causal. At the macroscopic level the physical world is causally closed: only transactions at the level of matter and energy can be causal. So it is the activity of the thalamocortical core that is causal, not the phenomenal experience it entails. To make the point clear, let us define C* to be the integrated pattern of neural activity that makes up the dynamic core at a particular time. C* entails a conscious state we call C and which involves a particular set of discriminations. C* not only entails C but contributes causally to subsequent C* states as well as bodily actions. The relationship between C* and C is faithful and for this reason, in most cases, we can speak of C as if it is causal. Indeed, C states are informative of C* states. They are our only access to such states, inasmuch as our neurophysiological methods cannot, at present, record the myriad neural contributions that are integrated in a given causal core state.
So we must conclude that our belief that consciousness causes things to happen is one of a number of useful illusions. The usefulness of this particular illusion may be appreciated by considering that we speak to each other in C language. But the underlying neural activity is what drives individual and mental responses. Philosophers have found this set of conclusions to be an expression of epiphenomenalism—that consciousness does nothing. In fact, it serves to inform us of our brain states and is thus central to our understanding. The traditional horror with which epiphenomenalism is met by philosophers can be abated once the faithful entailment mechanisms of reentrant core states are understood."


(Edelman, Gerald M. Second Nature: Brain Science and Human Knowledge. New Haven: Yale University Press, 2007. pp. 91-2)

ostfriese hat geschrieben:Wie ich bereits schrieb, ist Kausalität keine Eigenschaft von Natur, sondern ein Modellbegriff, mit dem wir die Wechselwirkungen zwischen realen Systemen charakterisieren.


Und wie kann ein psychisches Ereignis allein kraft seiner psychischen Seite ein rein physisches oder ein anderes psychisches Ereignis hervorrufen, wenn es keine psychischen Kräfte oder Energieformen sui generis gibt?
Kurzum: Wie kann etwas rein Psychisches als Nichtphysisches irgendetwas in der Natur bewirken?
Darauf haben der Emergentismus und der nichtreduktionistische Physikalismus im Allgemeinen keine gescheite Antwort anzubieten!

ostfriese hat geschrieben:Auf bestimmten Modellebenen finden wir Strukturen, die wir mit der Kausalität identifizieren, z.B. den Übertrag von Erhaltungsgrößen. Aber auch diese Größen selbst sind wieder nur modellhafte Konstrukte, mit denen wir Charakteristika bestimmter Wechselwirkungen abzubilden versuchen.


Mit scheint, du verwechselst die realen physischen Eigenschaften mit ihren abstrakten mathematischen Repräsentationen.

"The properties of a physical system are represented by the values of physical quantities: temperature, electric field, stress, etc. Crudely speaking, a physical quantity is anything that can be measured. A physical quantity is defined by prescribing the experimental procedure that will measure it."

(Tarantola, Albert. Elements for Physics: Quantities, Qualities, and Intrinsic Theories. Berlin: Springer, 2006. p. 105)

"[T]here is a need for more than quantities and numbers. Every quantity or measure is such only by virtue of there being qualities for and of which it is the quantity or measure."

(Martin, C. B. The Mind in Nature. Oxford: Oxford University Press, 2007. p. 83)

ostfriese hat geschrieben:Niemand weiß, was Energie ist.


Ach was ... :erschreckt:
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